Berlin-Theoretiker Florian Illies
Nachdruck des folgenden Textes mit freundlicher Genehmigung des Magazins "du" und des Autors Florian Illies:
Berlin – Trat früher als Vorgruppe von Bonn und Moskau unter den Namen West-Berlin und Ost-Berlin auf, 3,5 Mio. Einwohner, die mit Beamtenbesoldung oder anderen staatlichen Subventionszulagen am Verlassen der Stadt gehindert werden sollen. Die Emigrationsauswirkungen der seit Juni 2003 sechs täglichen Direktflugverbindungen nach Zürich sind noch nicht bezifferbar. Grösster Stolz: das drehbare Restaurant im Alexanderturm, kleinster gemeinsamer Nenner: Currywurst. Stilprägend: Heiner Müllers Brille (Ost), Harald Juhnkes Tolle (West). Die Stadt hat die zweijährige Besatzungszeit unter Thomas Borer und Shawne Borer-Fielding unbeschadet überstanden. Keine Aussage über Berlin stimmt, weil mindestens auch das Gegenteil richtig ist. Grösstes zusammenhängendes Gründerzeitensemble Europas, grösste unzusammenhängende Debattierbühne Deutschlands. Wer keinen Hund hat, wird Stadttheoretiker. [Züri-Berlin fühlt sich ertappt und hätte sich zwecks Einatmung frischer Luft statt eines Stadt-Blogs vielleicht doch besser einen Hund zugetan.] Die anderen warten. Auf den 1. Mai, die Love-Parade, die Rückkehr der 20er Jahre, den Aufschwung oder den Berlinroman. Die örtliche Sprachpolizei verteilt Busszettel für die Verwendung folgender Begriffe: "Prenzelberg", "Kiez", "Flaneur", "Spreeathen" bzw. "In der Schweiz wird man aber besser bedient". Dennoch: eine wunderbare Stadt. Siehe auch Themenpark Mitte, Berlin-Syndrom, Berlinroman.
Florian Illies

Nachdrücklich gesucht wird im Übrigen eine findige Person, die im digitalen Zeitalter dem Wort "Nachdruck" ein neues Kleid schenkt. Denn die Zukunft gehört – glaubt man der Trendmeteorologie – ohnehin dem E-Paper. Aber vielleicht ist dieses E-Paper ja genauso ein Mythos wie das papierlose Büro, von dem man mal so viel auf Papier Gedrucktes gelesen hat.
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