Sonntag, September 24, 2006

Züri-Berlin zieht Bilanz

Am Anfang stand eine Spontanaktion. In zwei Minuten war Ende April "Synthesen" entstanden. Um ein paar Freundinnen und Freunden in der Schweiz kleine Einblicke in meine Berliner Monate zu ermöglichen. Und um nach Jahren der regelmässigen Lektüre von danah boyds Blog mal etwas nachzufühlen, was Bloggen bedeutet.
Ich schrieb in meinem ersten Eintrag von einem "Abenteur mit unerwartetem Ausgang". Mein Zutritt zur Blogosphäre war und ist durchaus ein Abenteuer. Ende Juli wurde aus Synthesen "Züri-Berlin" und mein Bewusstsein dafür, dass man sich mit einem Blog ja tatsächlich in einem öffentlich zugänglichen Internet bewegt, drang erst da allmählich in mein naives Gemüt. Das brachte grosse Freuden, unerwartete Vernetzungen, Web- und reale Bekanntschaften, aber auch schmerzliche Erkenntnisse:

  • Bloggen macht Spass, macht süchtig und verstärkt die egomanische Veranlagung, die zum Bloggen bereits vorhanden sein muss.
  • Der Inter-Blog-Austausch mit Gleich- und Andersgesinnten über Kommentare und Flickr ist sehr bereichernd, aber gelinde gesagt auch ziemlich zeitintensiv.
  • Ich weiss noch immer nicht, ob ich der oder das Blog sagen soll. Ich hatte mich mal für das Blog entschieden, lese aber immer wieder der Blog. Inzwischen sage und schreibe ich auch beides - je nach Lust und Laune. Männliche und sächliche Pronomen liegen ja im Deutschen so nah beieinander, dass das oft gar nicht auffällt.
  • Ich würde nicht wieder Blogger.com wählen, sondern Wordpress. Wegen Googles Allmachtsansprüchen und weil Blogger.com viel weniger Möglichkeiten bietet als die Open Source Software Wordpress.
  • Creative Commons-Lizenzen sind vielen Menschen auch im Publikationsgeschäft noch unbekannt. Scheinbar auch Redaktoren (=Redakteuren) des grössten Schweizer Medienkonzerns, die mir dafür noch eine Antwort schuldig sind
  • Ein für ein Schweizer Publikum gemachtes Blog, das öfter von deutschen Internetanschlüssen angeklickt wird, kommt früher oder später ins Deutsch-Dilemma: soll das ß verwendet werden, sollen Helvetismen systematisch durch Teutonismen ersetzt werden und wie weit darf die Anpassung gehen, damit man sich zwar für Deutsche verständlich machen kann, aber in der Schweiz nicht als zu angepasst verschrien ist?

Tipps aus eigener Blog-Erfahrung:
  • Mit dem Bloggen verhält es sich wie mit dem Rauchen: Wer nicht signifikant mehr Zeit vor dem Computer verbringen möchte, fange erst gar nicht mit diesem Laster an.
  • Wer dem Laster schon verfallen ist: Unbedingt mindestens einmal Model und Alice und Werbung erwähnen, dann wird das Blog ganz häufig gefunden und angeklickt, wenn man denn das wünschen sollte. Möglicherweise suchen dann die Menschen aber nicht nach Ihrem Blog, sondern nach dem Bild eines makellosen blonden halbnackten italienischen Supermodels, das Werbung für einen bestimmten deutschen Internet-Provider macht.
  • Michèle Roten zu erwähnen bringt ebenfalls signifikant mehr Klicks. Auch da suchen die meisten schlicht ein Bild der schlagfertigen Kolumnistin, wie auch schon in anderen Blogs wie diesem diskutiert wurde.

Eine witzige Zusammenstellung unterschiedlicher Blogger-Typen findet sich hier. Noch bin ich es ja wenige Tage: Exil-Bloggerin. Dann bin ich wohl noch eine Weile eine "Was ich vor meiner Abreise in Berlin eigentlich auch noch alles bloggen wollte, aber nicht mehr dazugekommen bin"-Bloggerin und vielleicht sogar eine "What it feels like to be back home in the little big city"-Bloggerin.

Koffer in Berlin

"Ich hab noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin", sang Marlene Dietrich vor einigen Jahrzehnten.

In Kürze kehre ich mit einem Koffer voll Berlin-Erinnerungen ins südliche Zürich zurück, um vielleicht nächstens mal wieder hinzufahren.


Bild: im Jüdischen Museum, Berlin

Abschied

Was Jahreszeiten mit Blättern an Bäumen anstellen, ist für das Vergehen der Zeit ein sehr ausgetrampelter metaphorischer Pfad. Ausgetrampelte Pfade sind hingegen auch verlässliche Wege, und ich betrete diesen Pfad mit folgenden Zeilen schamlos: An den kühlen Frühlingstagen im April, blickte ich von meinem Zimmerfenster in Berlin-Kreuzberg aus direkt auf ein Zirkuszelt durch ganz scheu spriessende Blätter. Kurze Zeit später war das Zelt hinter dichtem Grün verschwunden, was den mal kühleren, mal wärmeren Sommer über so blieb. Inzwischen paaren sich gelbe Blättchen mit den gelben Streifen auf dem Zelt, das schon fast wieder etwas sichtbar wird. Sechs Monate sind einfach so vergangen, ohne dass man sie darum gebeten hätte.

Die Tage werden kühler, die meisten Berliner Freundinnen und Freunde sind verabschiedet, Wowi ist wiedergewählt und auch der Fernsehturm ist schon fast wieder ganz der alte.
Es wird Zeit, Abschied zu nehmen, auch wenn Nummernschilder von Autos eine andere Sprache sprechen (ST:AY 997). Es wird Zeit, nach Zürich zurückzukehren, ins Land mit den kürzeren Telefonnummern und Postleitzahlen, in die Stadt mit Trolleybussen, dafür ohne U-Bahnen, wo man parkiert und Pendenzenberge abträgt, wo Pünktlichkeit so viel wichtiger ist und wo man sich nur Tschüss sagt, wenn man sich auch wirklich duzt. Tschüss, Berlin. Und auf Wiedersehen.

Berlin. Home of the Currywurst.

Currywürste, Bouletten, Spreewaldgurken - bald winkt der Abschied.

Im Frühjahr 2007 soll in Berlin das Deutsche Currywurst Museum eröffnet werden. (Quelle: Wikipedia)

oberes Bild: Currywurst mit Pommes und Beck´s Green Lemon an einem Edel-Currywurst-Stand an der Kastanienallee (Prenzl´berg)

mittleres Bild: Berlin-Souvenir-Laden im neuen Hauptbahnhof: "Berlin. Home of the Currywurst"





unteres Bild: Bundesweit bekannter Currywurst-Stand am Mehringdamm: Curry 36

Mittwoch, September 20, 2006

Aufgesetzte Werbung

In einem Staat mit Volkseigenen Betrieben (VEB) und einem (gelinde gesagt) reduzierten Warenangebot war Produktewerbung eher eine überflüssige Sache. So wirken grosse Leuchtwerbungen wie diese auf den Gebäuden in den ehemaligen Berliner Ostbezirken irgendwie fremd und buchstäblich aufgesetzt. Besonders wenn es sich ironischerweise um jene Getränkefirma handelt, die als Kapitalismussymbol schlechthin gilt.
Doch so sehr man sich gegen ein Übermass an Aussenwerbung wehren sollte, wirken Plakate und Leuchtschriften hier schon fast wie Schmuck für die öden Plattenbausiedlungen.

Die DDR hatte übrigens einen SED-eigenen Monopolbetrieb für Werbung: die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft (DEWAG).

Taj Mahal in Berlin

Es hat was vom Taj Mahal in Indien: das Engelbecken beim Oranienplatz. Schon länger in Berlin Ansässige schwärmen vom Schilf, das aktuell wegen Bauarbeiten nicht mehr da ist, andere freuen sich dennoch über eine dieser kleinen Kuriositäten dieser Stadt. Man sitzt im Café am Engelbecken unter weissen Sonnenschirmen, blickt auf einen Teich und auf einen Garten mit orientalischem Brunnen und vergisst völlig, dass man sich im ehemaligen Mauerstreifen befindet. Erwachsene Jugendliche führen manchmal ihr ferngesteuertes Spielzeug- Motorrennbot im Engelbecken spazieren und ihr Lärm stört andere beim Frühstück um drei Uhr nachmittags.

oberes (wohl etwas älteres) Bild: Wikipedia
unteres Bild: Mai 2006 (Finde einen Farbunterschied!)

Montag, September 18, 2006

Filmstadt X-Berg

Man könnte fast vermuten, Babelsberg sei das deutsche Indoor- und Kulissen-Studio und Kreuzberg diene als Outdoor-Filmstudio.

Am Frühstückstisch diskutierten neben mir neulich eine Schauspielerin und eine Filmproduzentin Drehbücher. Ein anderes Mal wurde ich bei der Vorbeifahrt mit dem Fahrrad von künstlichem Regen am Filmset leicht nassgespritzt und im Badeschiff konnte ich bei einem meiner drei Kurzbesuche diesen Sommer kaum schwimmen, weil gerade eine Bikini-Szene gedreht wurde. Auch sonst sind Kameras und Mikrofone keine Seltenheit in Kreuzberg. Bekannt sind zum Beispiel die Aufnahmen aus dem Film Herr Lehmann. Manche Sprayer wollen aber scheinbar die Filmindustrie ganz aus dem schönen X-Berg verbannen (hier an der Sorauer Straße im Wrangel-Kiez).

Ob dieser Schriftzug tatsächlich auch unter die Kategorie Streetart in Kreuzberg fällt, bleibe dahingestellt. Vielleicht könnte man dafür auch mal wieder das althergebrachte Wort "Graffiti" benützen.

Berlin ist d i e Alt-neben-neu-Stadt





Dass Berlin riesige Kontraste vereint, ist nichts Neues. Soziale und kulturelle Differenzen lassen sich aber schwer fotografieren, deshalb muss die Architektur dafür hinhalten. Diese zeigt an den unterschiedlichsten Stellen sehr deutlich, wie sich Epochen und Stadtgestaltung voneinander abheben. Nur in Montréal erinnere ich mich, in ähnlicher Weise Gebäude aus unterschiedlichsten Epochen so auffällig nebeneinander gesehen zu haben. Dort werden grosse Kathedralen aus der französischen Kolonialzeit überschattet und regelrecht erdrückt zwischen hochmodernen Wolkenkratzern.
In Berlin fügt sich in einer kuriosen Harmonie alt in neu und neu in alt.

Samstag, September 16, 2006

Berliner Bücherskulpturen



Die eine Bücherskulptur steht prominent vor der Humboldt Universität beim Boulevard "Unter den Linden". Sie sollte während des WM-Sommers zusammen mit anderen in der ganzen Innenstadt verteilten silbernen Plastiken darauf hinweisen, dass Deutschland tatsächlich noch mehr zu bieten hat als nur Fussball. Dafür musste das Motto "Germany - Land of Ideas" und für diese Skulptur zudem eine ganze Reihe deutscher menschlicher Textmaschinen hinhalten. Das oberste metallene Buch ist dem aktuell geprügelten Literaturnobelpreisträger Günter Grass gewidmet. Es lag schon vor den sommerlichen Turbulenzen um seine Person da oben. Wenn ihm schon der Status des Ehrenbürgers von Danzig strittig gemacht wird, kann es nur von Vorteil sein, dass sein symbolisches Werk so weit oben liegt.

Die andere Bücherskulptur steht versteckt im Gebüsch im schönen Kreuzberger Graefe-Kiez vor einem kleinen Geschäft mit "Kreuzberger Kuriositäten".

Helvetisch speisen in Berlin

Die kulinarische Vertretung der Schweiz übernehmen in Berlin die Chüechliwirtschaft und das Nola's am Weinberg.

Beim Boxhagener Platz im Stadtteil Friedrichshain, auch Boxi genannt, isst man in der Chüechliwirtschaft Crêpes in allen Variationen zu günstigen Preisen. Dazu kann man sich sogar ein "Swizzly" bestellen. Im Schaufenster locken diverse Schweizer Schokoladensorten (von Ovomaltine bis Swiss Army Chocolate) und Rivella-Flaschen. Das Lokal ist im Vergleich zum Nola's am Weinberg beschaulicher, etwas handgestrickter, aber auch gemütlicher. Wer zur Crêpe nach Monaten mal wieder die Printausgabe der NZZ in Händen halten möchte, sitzt in der Chüechliwirtschaft auf dem richtigen Sofa.


Das Nola's am Weinberg befindet sich unweit der Kastanienallee (wegen hohem Trendfaktor auch Castingallee genannt) und war zu DDR-Zeiten mal ein Lebensmittelladen. Die schöne Lage über dem Park macht es für einen Gastrobetrieb allerdings ungleich geeigneter. Das Lokal wirkt ziemlich nobel, die Preise sind nicht ganz schweizerisch, aber für Berliner Standards doch im oberen Segment. Die hier beliebte Marke Schweiz wird im Nola's am Weinberg gezielt eingesetzt und gepflegt. Besonders gut schmeckte mir der Käse am sonntäglichen Brunch. Mit gutem Käse wird man in Berlin schliesslich nicht oft verwöhnt.

Nachtrag: Mitten im Grunewald ist zudem ein Restaurant im Châlet Suisse beheimatet. Auf der Speisekarte steht auch Rösti mit Kalbsgeschnetzeltem und Pilzen.

Freitag, September 15, 2006

Selbstreferentieller Che Guevara

Die Ikone ikonisiert sich selbst.

Vielleicht kann man so schrecklich akademische Begriffe wie "Selbstreferentialität" und "Autopoiesis" plötzlich doch noch populär machen.


Dies ist ein Update zum Eintrag über Streetart in Berlin-Kreuzberg.

Bild: Köpenicker Straße

Donnerstag, September 14, 2006

Bier in Berliner Eckkneipen

Für ein Bier oder zwei geht man in Berlin in die nächstgelegene Eckkneipe. Trotz der grossen Berliner Biervielfalt haben sich gewisse Biersorten aus unerfindlichen Gründen eher durchgesetzt als andere.

Das Berliner Bier ist Beck's, obwohl es eigentlich gar kein Berliner Bier ist, sondern ein Bier aus Bremen. Harte Kerle und Mädels trinken das grüne Beck's, Beck's Gold - und Beck's Green Lemon erst recht - gelten als Mädchen- und Schwulenbier. Beliebt ist in gewissen Kreisen das tschechische Bier mit Anfangsbuchstaben K (ein Name, den sich Nicht-Slawistik-Studierende kaum merken können). Andere mögen das Tannenzäpfle mit Schwarzwälder Charme und einem tollen goldenen Aluminiumpapier um den Flaschenhals. Dieses kann man im fröhlichen Wettstreit - wie Kaffeerahmdeckelchen noch vor der plastifizierten Version - glattstreichen.
Berliner Weiße ist eine Bierspezialität, die nur in Berlin hergestellt werden darf. Schmeckt für meinen zarten Gaumen allerdings etwas zu künstlich.

Noch unzählige Biersorten mehr und ebenso viele Ecken runden das Berliner Kneipenleben ab:
von gemütlichen Ecken bis hin zu fetten Ecken.

Prost!

Mittwoch, September 13, 2006

Berliner Frühstückskultur

Obwohl Italien als das Land mit Esskultur gilt, kann man sich unter einem italienischen Frühstück kaum etwas vorstellen. Das English Breakfast wiederum ist ein Würstchen- Speck- Eier- und- Bohnen- Gelage, das noch stundenlang schwer im Magen liegt.
In keiner Stadt habe ich bisher eine solch ausgeprägte Frühstückskultur erlebt wie in der deutschen Hauptstadt. Mag sein, dass das auch daran liegt, dass es in einer Kultur- und Kunststadt wie Berlin unterdurchschnittlich viele Nine-to-Five– Jobs gibt, dass sich die nachtaktiven Kulturschaffenden auch nachmittags um vier noch ein Frühstück gönnen möchten. Das „Cream“ an der Schlesischen Straße bietet „All time breakfast“, aber auch sonst ist hier Frühstück bis 16 oder 17h eher die Regel als die Ausnahme. Ausladende Buffets gibt es am Wochenende, Speisekarten mit Frühstücksmenüs à discretion, sodass die Wahl zur berühmten Qual wird, täglich. Wer sich zwischen Früchten, Salami, Käse, Müesli, Quark, Brioche, Milchkaffee und unzähligen weiteren Köstlichkeiten nicht entscheiden kann, gehe an die Oranienburger Straße: Da kann man sich auch das spartanische Existentialisten-Frühstück bestellen: Kaffee und Zigarette.

Fiebriger Wahlkampf

Berlin wählt diesen Sonntag. Seit einigen Wochen beobachte ich mit Belustigung, wie sich Persönlichkeiten und Parteien unübersehbar um Stimmen bemühen. Standaktionen und Flugblätter kennen wir auch aus der Schweiz. In Zürich kennen wir jedoch, dass politische Köpfe von dauerhaft eingerichteten metallenen Plakatstellwänden lächeln, die - wenn in der Schweiz ausnahmsweise mal nicht Wahl- oder Abstimmungskampf ist - herkömmliche Plakatwerbekampagnen beherbergen. In Berlin werden kurzerhand Strassenlaternen mit Hilfe von Kartonplatten und Plastikkabelbinder zu Wahlplattformen umfunktioniert. Diese Kleinplakate sind inzwischen teilweise durch Nässe verbogen, mit Filzstiften verziert (von Bart über Brille bis Beleidigung) und aufgewertet mit überklebten „Erststimme“-Zusätzen in den letzten Tagen.

Schade, dass einige Parteien auf ein eigenes Programm fast ganz verzichten und sich schlicht gegen die jetzige Regierung wenden. Die CDU fordert „Rot-rot abwählen“ und die Grünen wollen sich einmischen, bevor Berlin nur noch rot sieht. In Kreuzberg fällt auch auf, dass mehrere Parteien mit türkischen Kandidaturen auf Stimmenfang gehen. So schickt auch die CDU einen türkischen Samuray in den Kampf. Wie wohl die Wahlen für den regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, mit liebevollem Übernamen Wowi, ausgehen werden? Sein offenes Schwulsein hat ihm in Berlin jedenfalls bisher mehr Vorteile als Nachteile gebracht.

Die politische Hauswand Ecke Görlitzer / Oranien Straße, die sich während der WM auch kritisch zeigte (Foto), lässt das Berliner Wappentier den Frust mit Wahlen und Politik ausdrücken: "Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten!"


Erstaunlich sind auch viele Kleinparteien: Die grauen Panther fordern weniger machtbesessene Politiker (ein schöner Vorsatz, dessen Realitätssinn noch zu überprüfen wäre), die Partei, die angenehm TITANIC-satirisch unterwandert ist, die feministische Partei, die Tierschutzpartei, die Elternpartei und seit letztem Sonntag existiert sogar die Piratenpartei.

Am meisten Freude macht mir die Bergpartei mit unkonventionellen Parolen unter dem Motto: „Spaß kann auch Politik machen.“ Der spassige Weg ist auf jeden Fall kein Holzweg, um der weit verbreiteten Politikverdrossenheit etwas entgegenzuwirken.
Schliesslich titelt die aktuelle zitty, dass die Nicht-Wählenden in Berlin die stärkste Kraft seien. Dadurch das Ende der Demokratie heraufzubeschwören, scheint etwas überstürzt, aber zitty legt gekonnt den Finger auf die Wunde der demokratischen Legitimation von Abgeordneten, die bloss von einer Mehrheit innerhalb der wählenden Minderheit gewählt werden.




Berliner Wahlplakate in Hülle und Fülle - original und verunstaltet bzw. verschönert - gibt es hier.

Nachtrag: Am 13. September wurden in Kreuzberg gar vorbeibrausende kleine Lastwagen mit grossen CDU-Plakaten gesichtet: mobile Wahlkampfwerbung. Das Wahlkampf-CO2 der politischen Gegner könnte für Umweltparteien gefundenes Fressen sein, wenn sie denn nicht mit eigenen Aktionen, z.B. mobilen Plakaten auf Fahrrädern, beschäftigt sein sollten.

Dienstag, September 12, 2006

Deutsche Namensgebung

In Zürich kenne ich kaum Cafés, Beizen (=Kneipen), Läden, Coiffeure (=Frisöre), Schuhmacher oder Geschäfte mit deutschen, geschweige denn originellen deutschen Namen. Wer in der Deutschschweiz ein Lokal eröffnet, benennt es in der Regel mit einem Eigennamen, einem fremdsprachigen oder Fantasienamen. Es scheint, als würden in der Schweiz deutsche Namen absichtlich vermieden. In Berlin hat man glücklicherweise in unverkrampfteres Verhältnis zur deutschen Sprache und ihrer möglichen Eigenschaft, neue Lokalitäten zu benamsen.



So kann man sich am Heinrichplatz an der Oranienstraße (=O-Straße) in der "GerüchteKüche", im "Café Jenseits", im "Kreuzburger" und im "Kraut und Rüben" verpflegen. Das "Bateau Ivre" klingt mit der richtigen Aussprache nicht sehr deutsch, aber dafür bieten der "Bierhimmel" gegenüber oder der "Trinkteufel" um die Ecke im Getränkebereich eine Alternative.
"Knopf und Kragen" verkauft Knöpfe bevor man dafür Kopf und Kragen riskiert. "Leck mich!" kühlt Zungen mit Glacé (=Eis) an heissen Altweiber-Sommertagen.

Im Prenzlauerberg (=Prenzl'berg) kann man sich durch diverse Lokale trinken, deren Namen richtig deutsch klingen: "An einem Sonntag im August" macht man eine "Sorgenpause" im "Wohnzimmer", sagt "Ich liebe dich" und schliesslich "Zu mir oder zu dir". Und wenn das auf Ablehnung stösst, geht man einfach ins "Kauf dich glücklich". Wer dann noch immer nicht genug hat, geht in den Swinger Club "Zwanglos III".






Gefallen haben mir neben den Schuhmachernamen "Reißender Absatz" und "Schnelle Besohl Anstalt" auch Namen von schnellen Haar-Verkürzungsanstalten wie "Haarspree", "Schnittstelle" und "Haargenau". Und da fällt mir auch ein Name eines Zürcher Coiffeur-Geschäfts ein, das mit Berlin durchaus mithalten kann: "Haarchitektur".

Bald: Bye-bye Berlin.

Mein vorläufiges Berliner Ende naht, die Nostalgie hat vor der Abreise bereits vorzeitig eingesetzt, und neben anderen Berliner Projekten, die bisher nicht realisiert wurden, stehen auch noch diverse geplante Blog-Einträge aus. Ein paar davon sind noch immer in Vorbereitung und werden bald in Windeseile brockenweise nachgeliefert, bevor die Koffer ganz gepackt sind, die Wohnung definitiv vermietet und der ganze administrative Kram in die letzte mögliche Minute hinausgeschoben wurde.

Dass für einmal auf die Bebilderung verzichtet wurde, liegt daran, dass eine Mischung aus Nostalgie, ein paar bereit gestellten Sachen, aus unfertigen Blog-Einträgen und anderen Pendenzenbergen ein ziemlich abstraktes Bild ergäben.

Mittwoch, September 06, 2006

"Linie 1" - d a s Berliner Musical

Die einen bezweifeln ja, dass das Musical überhaupt eine ernst zu nehmende Kulturform sei, während andere regelrechte Musical-Freaks sind und andere Musikstile gar nicht wahrnehmen. Meine Haltung zu Musicals hat sich nach frühjugendlicher "Hair"-Euphorie inzwischen neutralisiert: ich sehe sie als legitime populäre Unterhaltungsform.

"Linie 1" ist das Berliner Musical schlechthin, das ich mir gestern zusammen mit Musikwissenschaftlerin Beate im GRIPS-Theater angesehen habe.

Die Geschichte dreht sich um die Berliner U-Bahnlinie 1 im Jahre 1986. Die Strecke der U1 versinnbildlicht die gegensätzlichsten Stadtteile Westberlins: Ein Stück über die U1 Mitte der 1980er ist somit auch eine Geschichte über Westberlin der damaligen Zeit. Vor der Wende war der U-Bahnhof "Schlesisches Tor", wo ich zurzeit wohne, Endstation vor der Mauer und gehörte zu den dunkelsten und verruchtesten Winkeln West-Berlins. [Heute erklären Stadtmagazine, wie neulich der Tip, die Gegend um das Schlesische Tor zur neuen aufregendsten Ausgehmeile der Stadt, was auch immer man von solchen Trendsetter-Berichten halten mag.] Im Musical erlebt eine junge Ausreisserin aus der westdeutschen Provinz zwischen dem Bahnhof Zoo und dem Schlesischen Tor allerhand Abenteuer. Während sie nach ihrem Märchenprinzen sucht, einem West-Berliner Rockmusiker, trifft sie auf der Strecke der U1 neben schrägen Vögeln, kaputten Typen und Tussis auch nazifreundliche Witwen, die am Wittenbergplatz aussteigen, um im KaDeWe den luxuriösen Shopping-Genüssen zu frönen.
Mit eingängigen Songs und schlagfertigen Dialogen werden einem Klischeebilder des grossbürgerlichen Stadtteils Wilmersdorf und dem rohen Kreuzberg präsentiert. Berliner Slang ist dicht gestreut (kleine Kostproben: "Mein Olle' hat mir jerade rausjeschmiss'n.", "Det weees ick ooch nicht.", "Meenste, ick find det juut?"). Die Liedzeile über Westberlin, wo in alle Richtungen nur Osten ist, und es sich somit um eine Sonnenaufgangsstadt handelt, hat mir gefallen, ich habe mich aber auch sonst erstaunlich gut amüsiert. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind in verschiedene Rollen geschlüpft, und überzeugten sowohl als kaputte Drogenabhängige wie auch als pelztragende rassistische Wilmersdorfer Witwen. Das junge Publikum klatschte und johlte auch zwischendurch immer mal wieder, nach dem übertrieben kitschigen Ende aber besonders.

Sonntag, September 03, 2006

Zürcher Laternen in Berlin

Das ist eine vierflammige Viereck- Laterne mit Palmetten. Steht jedenfalls auf dem Schild an dieser Gaslaterne, die wiederum neben vielen anderen antiken Laternen im Gaslaternenmuseum im Tiergarten in Berlin steht. Und ganz früher stand die Laterne mal in Zürich.
Zur genaueren Besichtigung aufs Bild klicken.

Blog-Recycling in Gratiszeitung


Diesen Schnipsel hat die zukünftige Berlin-Schweizerin Angela (mit eigenem Berlin-Blog) aus der Abendzeitung "heute" gerissen, die es vor meiner Abreise in Zürich noch nicht mal gab. Das nennt man wohl Blog-Recycling als Content für Gratiszeitungen. Bei dieser Art von Medienprodukten ist zunehmend Content statt Inhalt mit grösserem journalistischen Rechercheaufwand gefragt. Schliesslich muss man irgendwo zwischen der teuer verkauften Werbung, den Publireportagen, den Politik-Fastfood-News und der reichen Bebilderung mit Partygirls noch etwas Text abdrucken, damit man sich Zeitung nennen darf.
Aller Häme zum Trotz war ich natürlich erstaunt (und zugegebenermassen etwas erfreut), dass sich die Content-Manager von "heute" ausgerechnet die Schweizer Sprachverwirrungen in Berlin ausgesucht haben.

Samstag, September 02, 2006

"Hochdeutsch" im Blog-Dialog

Mein Beitrag zu schweizerischem Hochdeutsch in Deutschland wurde kürzlich auf der Blogwiese ausführlich besprochen. Inzwischen hat sich in 35 Kommentaren zum Blogwiese-Beitrag eine interessante Diskussion entwickelt. Sie zeigt deutlich, wie sehr es sich bei sprachlichen Feinheiten um ein emotionales Thema handelt, das zudem stark mit Identität verknüpft ist.
Manche vermuten, man verleugne die Identität als Schweizerin, wenn man sich im Ausland sprachlich zu stark anpasst (ob es zwischen der "Fremdsprache" Hochdeutsch und z.B. Englisch einen Unterschied gibt, sei dahingestellt). Völlig akzentfrei - wie in gewissen Kommentaren beschrieben - wird aus meiner Sicht ohnehin nie sprechen, wer nicht die eigene Muttersprache spricht. Und auch bei nahezu akzentfreien Sprecherinnen und Sprechern, drückt irgendwann anhand bestimmter Satzkonstruktionen oder Ausdrücke die Muttersprache durch. Auch wenn ich mich ja um eine gewisse sprachliche Angepasstheit bemühe, rufe ich z.B. in Schreckensmomenten noch immer laut das in der Schweiz übliche "Achtung!", obwohl ich weiss, dass man hier eher zur "Vorsicht!" ermahnt.

Heftig diskutiert wurde auch die scheinbare "Arroganz" der Deutschen. Die Wahrnehmnung als "arrogant" beruht natürlich hauptsächlich auf dem Schweizer Hochdeutsch- und Minderwertigkeitskomplex und den direkteren deutschen Umgangsformen. Diese sind vielleicht nicht immer ganz so charmant, aber immerhin oft etwas weniger umständlich als in der Schweiz: "Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie bitte unter Umständen das Fenster öffnen könnten, falls es Ihnen nichts ausmachen würde." (="Mach mal das Fenster auf!")

An einer in der Deutschschweiz oft diskutierten Frage scheiden sich auch in dieser Diskussion die Geister: "Sollen Deutsche in der Schweiz Schweizerdeutsch sprechen?" Ein Kommentar gibt Deutschen folgenden Tipp: "Sprecht Schweizerdeutsch erst dann, wenn ihr es auch beherrscht. Dann wirds akzeptiert." Zu Recht wehrt sich jemand und fragt, wie denn Deutsche Schweizerdeutsch lernen sollen, wenn sie es nie sprechen dürfen. Eine solche Haltung zeugt eindeutig von einer schweizerischen Arroganz.

"Wie käme das eigentlich in der Schweiz an, wenn jemand mit einem Mannheimer Dialekt statt Hochdeutsch sprechen würde?", fragt sich ein weiterer Kommentator. "Und warum sprechen viel mehr Deutsche als Schweizer Dialekt und Hochdeutsch?" Fraglos gute Fragen.

Schliesslich schreibt eine Bernerin: "Ich finde es u härzig (=sehr süß, Anm. d. Bloggerin) und bin geschmeichelt, wenn meine deutsche Kollegin ab und zu einen Satz uf Bärndütsch zu sagen versucht." Da hätten wir den Beweis, dass nicht bloss Schweizerdeutsch süss, niedlich oder eben "härzig" sein kann - oder eben doch?

Das deutsche Hollywood

Unweit von Berlin, in Babelsberg, hat Marlene Dietrichs Weltruhm mit dem Film „Der blaue Engel“ seinen Ursprung. Babelsberg ist ein Stadtteil von Potsdam, der Hauptstadt des Bundeslandes Brandenburg. Noch heute finden sich in der „Medienstadt“ Babelsberg viele Film- und TV-Produktionsstudios, wo auch internationale Filmprojekte realisiert werden.
Wer „Disneyland“ mag, wird sich bestimmt auch im Filmpark Babelsberg amüsieren. Wir ersparten uns den teuren Besuch des Erlebnisparks und schlichen um das Gelände herum, wo es durch die Bäume hindurch doch noch etwas zu sehen gab. Natürlich sollten Kulissen bloss so aussehen, als wären sie echt. Und doch wäre ich auf die von einem Gerüst gestützte Hausfassade beinahe reingefallen.

An jenem Tag Ende Juli hatten wir zudem den Park mit dem feudalen Schloss Sanssouci (die hier übliche buchstäblich sorglose Aussprache ist für Frankophile irritierend) in Potsdam ausführlich besichtigt und endlich auch die Cousine unseres Vaters, die in Babelsberg wohnt, etwas näher kennengelernt. Sie erklärte uns, dass man in Babelsberg Wert darauf legt, aus Babelsberg zu sein, obwohl Babelsberg natürlich streng genommen bloss ein Stadtteil ist. Spätestens da werden die Parallelen zu Hollywood noch deutlicher. Filmstädte wollen nicht zu Stadtteilen degradiert werden. Sei es nun Babelsberg in Potsdam oder Hollywood in L.A.

Freitag, September 01, 2006

Buchzensur damals, Webzensur heute

Diese Inschrift steht auf einer Gedenktafel am Berliner Bebelplatz bei der Humboldt Universität. Da verbrannten Studenten auf Veranlassung von Propagandaminister Goebbels am 10. Mai 1933 Werke von Autoren, die als „undeutsch“ bezeichnet wurden. Darunter befanden sich auch Schriften von Sigmund Freud, Erich Kästner, Heinrich Mann und Karl Marx. Heute erinnert am Bebelplatz ein Denkmal an die Bücherverbrennung: durch eine gläserne Bodenplatte in der Platzmitte blickt man in einen unterirdischen Raum mit leeren weissen Bücherregalen.

Eine aktuelle Parallele zur damaligen Verbrennung ist die Internetzensur. Prominentes Beispiel ist China, wo z.B. brisante Seiten über Taiwan und Tibet nicht angezeigt werden. Auch Wikipedia ist in China nur beschränkt nutzbar. Google wurde stark dafür kritisiert, dass sie sich den Internetzensurbestimmungen durch die chinesische Regierung gebeugt haben. Das Motto von Google "Don't be evil" wird dadurch neben der zunehmenden Kritik am Data-Mining (der aktuellen Goldgräberstimmung der Datensammler im Internet)** etwas unglaubwürdiger. Auch in Deutschland kann bei bestimmten Suchanfragen bei Google folgende Meldung angezeigt werden:
"Ihre Suche hätte in den Suchergebnissen einen Treffer generiert, den wir Ihnen nicht anzeigen, da uns von einer zuständigen Stelle in Deutschland mitgeteilt wurde, dass die entsprechende URL unrechtmäßig ist."
**Zu laute Kritik darf ich in dieser Hinsicht wohl nicht üben, schliesslich stelle ich Google nicht nur mit diesen Blogeinträgen meine Daten ebenfalls leichtsinnig zur Verfügung. Als Dankeschön wird mir kostenlos eine vergleichsweise schlecht programmierte Blog-Software und Webspace zur Verfügung gestellt. Immerhin könnte dies als kleines Experiment gewertet werden, wie denn Google selbst auf Kritik im eigenen Getriebe reagiert. Vielleicht liest bald, wer zueri-berlin bei Google eingibt:
"Ihre Suche hätte in den Suchergebnissen einen Treffer generiert, den wir Ihnen nicht anzeigen dürfen, da das Google-Zentralbüro den Inhalt nicht genehmigt hat."