Mittwoch, September 13, 2006

Fiebriger Wahlkampf

Berlin wählt diesen Sonntag. Seit einigen Wochen beobachte ich mit Belustigung, wie sich Persönlichkeiten und Parteien unübersehbar um Stimmen bemühen. Standaktionen und Flugblätter kennen wir auch aus der Schweiz. In Zürich kennen wir jedoch, dass politische Köpfe von dauerhaft eingerichteten metallenen Plakatstellwänden lächeln, die - wenn in der Schweiz ausnahmsweise mal nicht Wahl- oder Abstimmungskampf ist - herkömmliche Plakatwerbekampagnen beherbergen. In Berlin werden kurzerhand Strassenlaternen mit Hilfe von Kartonplatten und Plastikkabelbinder zu Wahlplattformen umfunktioniert. Diese Kleinplakate sind inzwischen teilweise durch Nässe verbogen, mit Filzstiften verziert (von Bart über Brille bis Beleidigung) und aufgewertet mit überklebten „Erststimme“-Zusätzen in den letzten Tagen.

Schade, dass einige Parteien auf ein eigenes Programm fast ganz verzichten und sich schlicht gegen die jetzige Regierung wenden. Die CDU fordert „Rot-rot abwählen“ und die Grünen wollen sich einmischen, bevor Berlin nur noch rot sieht. In Kreuzberg fällt auch auf, dass mehrere Parteien mit türkischen Kandidaturen auf Stimmenfang gehen. So schickt auch die CDU einen türkischen Samuray in den Kampf. Wie wohl die Wahlen für den regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, mit liebevollem Übernamen Wowi, ausgehen werden? Sein offenes Schwulsein hat ihm in Berlin jedenfalls bisher mehr Vorteile als Nachteile gebracht.

Die politische Hauswand Ecke Görlitzer / Oranien Straße, die sich während der WM auch kritisch zeigte (Foto), lässt das Berliner Wappentier den Frust mit Wahlen und Politik ausdrücken: "Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten!"


Erstaunlich sind auch viele Kleinparteien: Die grauen Panther fordern weniger machtbesessene Politiker (ein schöner Vorsatz, dessen Realitätssinn noch zu überprüfen wäre), die Partei, die angenehm TITANIC-satirisch unterwandert ist, die feministische Partei, die Tierschutzpartei, die Elternpartei und seit letztem Sonntag existiert sogar die Piratenpartei.

Am meisten Freude macht mir die Bergpartei mit unkonventionellen Parolen unter dem Motto: „Spaß kann auch Politik machen.“ Der spassige Weg ist auf jeden Fall kein Holzweg, um der weit verbreiteten Politikverdrossenheit etwas entgegenzuwirken.
Schliesslich titelt die aktuelle zitty, dass die Nicht-Wählenden in Berlin die stärkste Kraft seien. Dadurch das Ende der Demokratie heraufzubeschwören, scheint etwas überstürzt, aber zitty legt gekonnt den Finger auf die Wunde der demokratischen Legitimation von Abgeordneten, die bloss von einer Mehrheit innerhalb der wählenden Minderheit gewählt werden.




Berliner Wahlplakate in Hülle und Fülle - original und verunstaltet bzw. verschönert - gibt es hier.

Nachtrag: Am 13. September wurden in Kreuzberg gar vorbeibrausende kleine Lastwagen mit grossen CDU-Plakaten gesichtet: mobile Wahlkampfwerbung. Das Wahlkampf-CO2 der politischen Gegner könnte für Umweltparteien gefundenes Fressen sein, wenn sie denn nicht mit eigenen Aktionen, z.B. mobilen Plakaten auf Fahrrädern, beschäftigt sein sollten.

1 Comments:

Anonymous Anonym said...

In Dresden gab es mal zeitgleich zu diesen kommunalen Wahlkampfplakaten mit ihren Grinsegesichtern darauf eine Ausstellung über Dinosaurier. An jeder zehnten Laterne klebte deshalb eben kein Politiker, sondern Tyrannosaurus rex, was sehr hübsch anzusehen war und dieser Plakateschlacht eine gewisse Wahrhaftigkeit verlieh.

9/13/2006 12:04:00 PM  

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